Wirtschaftsfaktor: Hochsensibilität

Ein Interview mit Ronald Lengyel

Wie sich das Potenzial hochsensibler Mitarbeiter in Unternehmen am besten nutzen lässt

Ronald Lengyel, Magister (FH) für wirtschaftswissenschaftliche Berufe, MSc im Bereich Coaching und Organisationsentwicklung, Experte für Hochsensibilität und Resilienz im Unternehmenskontext, richtet seinen Fokus auf das größte Kapital in Unternehmen – die Mitarbeiter. Mit prozessorientierter Begleitung der Führungskräfte und Mitarbeiter leistet Ronald Lengyel einen Beitrag zur Zukunftssicherung der Unternehmen. Seine Spezialisierung liegt im Bereich der emotionalen und sozialen Kompetenz.
www.pemotion.at – Linz, Österreich
 

Ulrike Hensel: Herr Lengyel, in Ihrem Buch „Wirtschaftsfaktor: Hochsensibilität“ präsentieren Sie die Ergebnisse Ihrer Masterarbeit einer breiten Öffentlichkeit. Für Ihre Arbeit mit dem Titel „Wahrnehmung und Einschätzung von Hochsensibilität in deutschsprachigen Unternehmen“ haben Sie eine Umfrage unter Arbeitnehmern und Führungskräften durchgeführt und circa 1000 Fragebögen ausgewertet. Welche Hypothesen hatten Sie aufgestellt und inwieweit fanden Sie diese bestätigt?
Ronald Lengyel: In dieser Studie wurden fünf Hypothesen aufgestellt. Sie lauteten:

  1. Je sensibler eine Führungskraft, desto besser stimmt das Führungsverständnis mit hochsensiblen Mitarbeitern überein.
  2. Je sensibler die Führungskraft, desto mehr Freiheiten werden hochsensiblen Mitarbeitern eingeräumt, was sich positiv auf die Zusammenarbeit auswirkt.
  3. Je höher die Wertschätzung der Arbeitnehmer durch Führungskräfte, desto besser funktioniert die Zusammenarbeit im Unternehmen.
  4. Je sensibler ein Arbeitnehmer, desto störender werden negative Einflüsse aus dem Arbeitsumfeld wahrgenommen.
  5. Je besser die eigene Arbeitssituation von hochsensiblen Mitarbeitern bewertet wird, desto mehr wird die Zusammenarbeit im Unternehmen wahrgenommen. (Quelle: Lengyel, 2013, S. 52)

Alle Hypothesen mit Ausnahme der fünften konnten in dieser Untersuchung bestätigt werden. Hierbei ist anzumerken, dass ein Großteil der Probanden in die Kategorie „hochsensibel“ fiel.

Ulrike Hensel: Gab es auch Ergebnisse der Umfrage, die für Sie überraschend waren?
Ronald Lengyel: Ja, definitiv. Besonders überrascht hat mich das Ergebnis zur fünften Hypothese. Hochsensible sehen den Zusammenhang zwischen dem Maß der Zusammenarbeit in einem Unternehmen und den Arbeitsbedingungen deutlich anders als Mitarbeiter, die eine durchschnittliche Sensibilität aufweisen. Im Allgemeinen fördern bessere Arbeitsbedingungen die Zusammenarbeit. Dies gilt jedoch nicht unbedingt für hochsensible Arbeitnehmer. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass hochsensible Arbeitskräfte tendenziell lieber eigenständig arbeiten als in einem Team. Dieses Untersuchungsergebnis kann allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass bei der Beantwortung der Frage gar nicht die Sensibilität, sondern andere Einflussfaktoren im Vordergrund standen.

Ulrike Hensel: Wie sieht ein angenehmes und attraktives Arbeitsumfeld für hochsensible Menschen aus? Gibt es Aspekte, die ganz besonders bedeutungsvoll sind?
Ronald Lengyel: Da es unterschiedliche Ausprägungen von Hochsensibilität gibt, werden auch die Kriterien für ein attraktives Arbeitsumfeld von Hochsensiblen unterschiedlich angegeben und bewertet. Grundsätzlich sollten Arbeitgeber wissen, dass es hochsensiblen Arbeitnehmern besonders schwer fällt, bei starken Reizen, die auf sie einströmen und die sie emotional beeinflussen, aufmerksam und konzentriert die Arbeitsaufgaben auszuführen und den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Daher sollte das Arbeitsumfeld ruhig gestaltet sein und die Möglichkeit geboten werden, sich zurückzuziehen. Daneben ist es sehr wichtig, dass hochsensiblen Mitarbeitern der Sinn ihrer Tätigkeit ersichtlich ist und sie anerkennendes Feedback dazu bekommen. Auch eine achtsame Kommunikation spielt eine große Rolle.
Im Detail gibt es viele weitere Aspekte, die berücksichtigt werden sollten, diese können in meinem Buch „Wirtschaftsfaktor: Hochsensibilität“ nachgelesen werden.

Ulrike Hensel: Welchen Grundsätzen sollte Führung für hochsensible Mitarbeiter folgen, um ein Höchstmaß an Arbeitszufriedenheit zu erreichen?
Ronald Lengyel: Grundsätzlich sollten Unternehmen das tayloristische Führungsmodell mit dem Fokus auf prozessgesteuerten, fest vorgeschriebenen Arbeitsmethoden und Arbeitsabläufen aufgeben. Wie negativ dieser überholte Ansatz, der leider noch viel zu oft anzutreffen ist, bei den Mitarbeitern – nicht nur bei den hochsensiblen – ankommt, spiegelt sich meines Erachtens unter anderem in hoher Fluktuation wider.
Führungskräfte und Mitarbeiter sollten nicht nur in fachlichen Belangen, sondern auch im sozialen Umgang miteinander geschult werden. Die Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die den hochsensiblen Mitarbeitern zugutekommen, haben natürlich auch positive Auswirkungen auf alle anderen Mitarbeiter.
Die Mitarbeiter sollten immer in Veränderungsprozesse aktiv mit miteinbezogen werden. So werden sie erfahren, dass solche Maßnahmen auch Aufwand bedeuten und Geld kosten und sie werden die Bemühungen des Arbeitgebers mehr schätzen können. Auf der anderen Seite werden sie besser verstehen, dass auch sie ihren Beitrag zu einem guten Betriebsklima zu leisten haben.

Ulrike Hensel: Brauchen Hochsensible Ihrer Einschätzung nach einen komplett anderen Führungsstil als Nicht-Hochsensible?
Ronald Lengyel: In der Praxis zeigt sich, dass jede Führungskraft ihren eigenen Führungsstil hat und auch nicht alle Mitarbeiter gleich behandelt. Ich halte es auch für wichtig, dass die verschiedenen Mitarbeiter unterschiedlich gefordert und gefördert werden. Ein hohes Maß an Empathie ist aus meiner Sicht eine der wichtigsten Kompetenzen, die eine Führungskraft aufweisen sollte. Alle Führungskräfte sollten unbedingt wissen, was unter Hochsensibilität zu verstehen ist und was damit verbunden ist, um das Potenzial der Mitarbeiter zu erkennen und es auch unternehmerisch zu nutzen. Um nur ein Beispiel zu nennen: das vernetzte Denken, das in unserer heutigen komplexen Welt immer wichtiger wird. Diese Fähigkeit ist einer von vielen positiven Aspekten der Hochsensibilität.

Ulrike Hensel: Muss eine Führungskraft selbst hochsensibel sein, um sensibel führen zu können?
Ronald Lengyel: Ich denke nicht, dass das notwendig ist, wenngleich es natürlich hochsensiblen Führungskräften leichter fällt, auf die Bedürfnisse von hochsensiblen Mitarbeitern einzugehen. Entscheidend ist, dass alle Führungskräfte hinreichend über relevante Aspekte der Hochsensibilität Bescheid wissen und bereit sind, die hochsensiblen Mitarbeiter mit ihren Anliegen ernst zu nehmen und sich mit ihnen auf Augenhöhe auseinander zu setzen.

Ulrike Hensel: Raten Sie hochsensiblen Menschen, sich im Unternehmen gegenüber dem Chef und den Kollegen als hochsensibel zu outen?
Ronald Lengyel: Ich denke, dass viele hochsensible Arbeitnehmer gar nicht wissen, dass sie hochsensibel sind und es schon von daher nicht mitteilen können. Es ist auch nicht wichtig zu kategorisieren. Jedoch empfinde ich es ganz generell als wichtig, dass Mitarbeiter zur Sprache bringen, welche Rahmenbedingungen sie benötigen, um optimal arbeiten zu können, und dass umgekehrt Führungskräfte ihre Mitarbeiter danach fragen. Die Anforderungen an den optimalen Arbeitsplatz variieren je nach Arbeitsaufgaben. Deswegen lohnt es sich, dieses Thema von beiden Seiten regelmäßig anzusprechen. Dazu gehören Punkte wie Arbeitszeit, Erreichbarkeit und auch der Umgang mit schwierigen Situationen.

Ulrike Hensel: Sie bieten Beratung für Unternehmen an. Was macht es für die Unternehmensleitung und für Führungskräfte attraktiv, sich überhaupt mit den Belangen Hochsensibler zu beschäftigen?
Ronald Lengyel: Da laut Forschungen von Dr. Elaine Aron 15–20 % der Menschen hochsensibel sind, werden sie sicherlich auch in einem ähnlichen Verhältnis in jedem Betrieb vertreten sein (mit Abweichungen je nach Branche und Tätigkeitsbereich). Das Thema Hochsensibilität ist meines Erachtens auf jeden Fall ein Thema, das in Unternehmen nicht unterschätzt werden darf, da die hochsensiblen Mitarbeiter mit ihren natürlichen Talenten und Stärken zur notwendigen Vielfalt in der Mitarbeiterschaft gehören (Erfolgsfaktor Diversity).
Hochsensible Menschen sind sehr zuverlässig, gewissenhaft und immer bestrebt, ihre Arbeit 100 % richtig zu machen. Des Weiteren können sie durch ihre ausgeprägte Intuition Probleme früher erkennen als durchschnittlich sensible. Die Fähigkeit des vernetzten Denkens habe ich zuvor schon genannt.
In der heutigen Zeit ist es für Unternehmen ein nachhaltiger Wettbewerbsvorteil, wenn sie das Potenzial der hochsensiblen Mitarbeiter abrufen und nutzen, besonders, wenn sie innovativ und zukunftsorientiert am Markt agieren möchten.

Ulrike Hensel: Was ist Ihrer Meinung nach ein geeigneter Ansatz für eine Beratung im Hinblick auf die hochsensiblen Mitarbeiter im Unternehmen?
Ronald Lengyel: Pauschal lässt sich diese Frage nur sehr schwer beantworten. Meine Beratung basiert auf der klassischen Organisationsentwicklung. Im Hinblick auf den Anteil der hochsensiblen Mitarbeiter geht es mir im ersten Schritt darum, den Unternehmen aufzuzeigen, welches Potenzial in ihnen steckt und welche Vorteile es für das Unternehmen bringt, diesen Mitarbeitern möglichst optimale Arbeitsbedingungen zu bieten. Auf jeden Fall wirke ich darauf hin, dass Aspekte der Hochsensibilität im sozialen Umgang miteinander und in der Kommunikation berücksichtigt werden. Die von mir vorgeschlagenen Maßnahmen reichen von der Veränderung der Unternehmenskultur bis hin zur Erweiterung der Aus- und Weiterbildung von Führungskräften und Mitarbeitern – das alles mit dem Ziel, gute Fachkräfte zu gewinnen und im Unternehmen halten zu können.

Ulrike Hensel: Herr Lengyel, ich danke Ihnen für dieses Interview.

Ulrike Hensel

hat Angewandte Sprachwissenschaft studiert und sich ihr Leben lang für Kommunikation, Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung interessiert. Seit 2010 ist sie als Coach für hochsensible Erwachsene tätig. In ihren Coachings und Gesprächsgruppen unterstützt sie Hochsensible darin, sich in ihrer hochsensiblen Wesensart anzunehmen und ihr privates und berufliches Leben im Einklang damit zu gestalten. Als Autorin möchte sie Erkenntnisse ermöglichen, ermutigen und inspirieren. Sie hat mittlerweile vier Bücher über Hochsensibilität beim Junfermann-Verlag geschrieben. Das Thema Hochsensibilität behandelt sie sachlich und neutral, verknüpft es vor allem mit dem der Kommunikation.

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