Hochsensibel oder hochsensitiv?

In meinen Augen ist „Hochsensibilität“ der richtige Ausdruck

Hie und da trifft man anstelle von (oder zusätzlich zu) „hochsensibel“ bzw. „Hochsensibilität“ auf die Begriffe „hochsensitiv“ bzw. „Hochsensitivität“. Der Begriff „Hochsensitivität“ wird von einigen Leuten, die sich professionell mit Hochsensibilität beschäftigen und darüber auch schreiben, benutzt, verbreitet und als der zutreffendere Begriff und/oder auch als die richtigere Übersetzung von „high sensitivity“ bezeichnet.
Manche hochsensiblen Menschen greifen diese abweichende Begrifflichkeit offenbar gerne auf. Ich vermute, dass sie die Wortwahl „Sensitivität“ begrüßen, weil dieses Wort ihnen unvorbelastet und positiv erscheint. Welcher Hochsensible ist nicht schon als „Sensibelchen“ verunglimpft worden? Dennoch sehe ich das Ausweichen auf einen neuen Begriff kritisch.

Sensibilität ist eine Grundeigenschaft des Lebens

Ich plädiere dafür, bei dem eingeführten Begriff Hochsensibilität zu bleiben und Sensibilität zu rehabilitieren. Sensibilität/Reizbarkeit/Irritabilität ist eine Grundeigenschaft des Lebens, die über das Nervensystem realisiert wird. Einfach gesagt: Das Nervensystem nimmt Informationen über die Umwelt und den Organismus auf, verarbeitet diese und veranlasst entsprechende Reaktionen. So kann sich das Lebewesen auf seine Umwelt einstellen und lebenserhaltend reagieren. In diesem Sinne ist jeder Mensch sensibel, Hochsensible sind es lediglich in einem höheren Maße.

Zur Übersetzungsfrage

Als Diplom-Übersetzerin habe ich mich damit aufmerksam befasst und bin zu dem Schluss gekommen: „Hochsensibilität“ ist die passende Übersetzung für Elaine Arons „High Sensitivity“ (wohl wissend, dass es keine 100 %ige Entsprechung gibt). Die Übersetzung „sensitiv“ scheint nahe zu liegen, dabei handelt es sich jedoch eindeutig um so genannte „falsche Freunde“, was bedeutet, dass die Wörter in zwei Sprachen zwar gleich (bzw. ähnlich) geschrieben sind und gleich lauten, nicht aber bedeutungsgleich sind.

Verwirrung und Segmentierung vermeiden

Eine weitere Überlegung: Eine Zersplitterung der Begriffe stiftet unnötig Verwirrung (manche meinen „Hochsensitivität“ sei etwas anderes) und dient meines Erachtens nicht der Sache der Hochsensiblen, sprich dem Abbau von Vorurteilen und dem Stärken der Gruppe der Hochsensiblen in unserer Gesellschaft. Viel besser fände ich es, wenn alle an einem Strang ziehen würden. Ich meine, das gemeinsame Bemühen sollte darin liegen, die hochsensible Wesensart möglichst wertfrei zu beschreiben, also weder vor allem die Belastungen zu betonen, noch einseitig die Befähigungen als etwas ganz Abgehobenes zu preisen.

Die Vorsilbe macht den Unterschied: Von „Hyper-“ zu „Hoch-“

Da wir gerade bei Begrifflichkeiten sind, noch ein Wort zu „Hypersensibilität“ – vor allem anzutreffen im psychotherapeutischen Kontext. Hier wird überdurchschnittliche Sensibilität als Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm in die Nähe einer krankhaften Störung gerückt. „Hochsensibilität“ hingegen vermag neutral auszudrücken, dass eine höhere Sensibilität als beim Bevölkerungsdurchschnitt vorliegt.

Der Zusammenhang von empfindsam und empfindlich

Man findet auch diskutiert, ob denn nun eine hohe Empfindsamkeit oder eine hohe Empfindlichkeit vorliegt. Ich sehe den Zusammenhang ganz einfach so: Unweigerlich führt eine höhere Empfindsamkeit auch zu einer höheren Empfindlichkeit. Auf einem anderen Blatt steht, wie der Einzelne mit seiner höheren Empfindlichkeit umgeht, was er an Reaktionen nach außen trägt. Hier kommen wir dann in den weiten Bereich der Kommunikation. Ich empfehle Hochsensiblen sehr, sich nicht nur mit ihrer Wesensart und dem Umgang damit, sondern auch intensiv mit gelingender Kommunikation zu befassen.
Am ehesten für angebracht halte ich es, wenn der Ausdruck „Sensitivität“ im Sinne von „Empfindsamkeit“ allein für die besonders ausgeprägte Wahrnehmungsbegabung benutzt wird und nicht für das Gesamtphänomen Hochsensibilität.

Fazit:

Es erscheint mir angezeigt und sinnvoll, beim Begriff Hochsensibilität, so wie er auch in der Übersetzung des Standardwerks von Elaine Aron 2005 gewählt wurde und von zahlreichen anderen Autoren seither benutzt wird, zu bleiben. Hochsensibilität kann als passende Entsprechung zu dem im Englischen geprägten Begriff „high sensitivity“ angesehen werden und meines Erachtens sehr gut als eine wertneutrale Bezeichnung für Menschen mit einem besonders sensiblen Nervensystem dienen.

Ulrike Hensel

hat Angewandte Sprachwissenschaft studiert und sich ihr Leben lang für Kommunikation, Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung interessiert. Seit 2010 ist sie als Coach für hochsensible Erwachsene tätig. In ihren Coachings und Gesprächsgruppen unterstützt sie Hochsensible darin, sich in ihrer hochsensiblen Wesensart anzunehmen und ihr privates und berufliches Leben im Einklang damit zu gestalten. Als Autorin möchte sie Erkenntnisse ermöglichen, ermutigen und inspirieren. Sie hat mittlerweile vier Bücher über Hochsensibilität beim Junfermann-Verlag geschrieben. Das Thema Hochsensibilität behandelt sie sachlich und neutral, verknüpft es vor allem mit dem der Kommunikation.

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