Abgrenzung von Hochsensibilität und Hochbegabung – Seite 5

Trotz Gemeinsamkeiten die Phänomene auseinanderhalten

Bei Hochbegabung wie auch bei Hochsensibilität kann eine genetische Veranlagung kann als gesichert angenommen werden. Und in beiden Fällen spielt das soziale Umfeld, vor allem während der Kindheit, eine große Rolle für die Entwicklung und Ausprägung der jeweiligen Anlage. Ohne Akzeptanz und ohne Unterstützung kommen im einen wie im anderen Fall die individuell angelegten Potenziale nicht zur vollen Entfaltung. Das kann zu dem mitunter quälenden Gefühl führen, weit hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben.

Beide Gruppen, Hochsensible wie Hochbegabte, sind Minderheiten – mit allen damit verbundenen Herausforderungen. Bevor sie die Phänomene kennen lernen, haben sie zunächst keine wirkliche Erklärung für das, was sie bei sich im Unterschied zu der Mehrheit anderer Menschen beobachten. Sie wissen zunächst meist nicht, was mit ihnen ist, fühlen sich vielfach unverstanden und verkannt, fühlen sich nicht richtig zugehörig. Sie kennen nicht die zu dem jeweiligen Phänomen gehörenden Facetten. Nicht erkannte Hochbegabung kann wie nicht erkannte Hochsensibilität zu Verunsicherung und Selbstzweifeln führen angesichts der Inkompatibilität mit dem Rest der Welt.

Sowohl hochsensible als auch hochbegabte Menschen tun sich vielfach schwer damit, befriedigende Kontakte und eine passende Kommunikationsebene mit Nicht-Hochsensiblen bzw. Nicht-Hochbegabten zu finden, weil die Übereinstimmung in der Art zu fühlen und zu denken fehlt. Vielfach vermissen sie eine ausreichende Würdigung ihrer Einzigartigkeit und finden nur schwer einen ihnen gemäßen Platz in der Gemeinschaft, fühlen sich gar ausgegrenzt.

Festzuhalten bleibt auch, dass manche der für Hochbegabte typischen Schwierigkeiten nicht erst bei einem IQ von 130 anfangen, sondern in ähnlicher Weise auch schon auf Menschen mit einem überdurchschnittlichen IQ zutreffen, weil auch sie nicht so sind wie die Mehrheit.

Noch mal Prozentzahlen: Im einem Taschenbuch „Wie schlau sind Sie?“ (Kiepenheuer & Witsch, 2014) finde ich folgende Feststellung: „Die meisten Menschen sind durchschnittlich intelligent. 70 Prozent liegen in der Nähe des Mittelwertes [100], 15 Prozent sind deutlich überdurchschnittlich und 15 Prozent fallen ab. Einen IQ von 130 und höher haben nur zwei Prozent, das sind dann die sogenannten Hochbegabten.“ Mit den 15 Prozent hätten wir eine ähnliche Zahl wie für Hochsensible, wobei ich nicht davon ausgehe, dass es sich um dieselben 15 Prozent der Bevölkerung handelt.

Meine Schlussfolgerung: Trotz aller denkbaren Kritik am gängigen Intelligenzbegriff, der sich nur auf das abstrakt-logische Denkvermögen bezieht, und an der im Grunde willkürlichen Festlegung von Hochbegabung (2,27 %!), halte ich es also für angezeigt, die Begriffe „Hochbegabung“ und „hochbegabt“ nur im etablierten engen Sinn (IQ-Wert ab 130) zu verwenden.

Den Begriff Hochbegabung weit auszulegen und die hohe Wahrnehmungsbegabung Hochsensibler einfach als (eine Art) „Hochbegabung“ zu deklarieren, ist meiner Meinung nach weder für das bessere Verstandenwerden von HSP dienlich, noch für deren Identitätsfindung und Selbstentfaltung. HSP, die nicht hochbegabt im Sinne von sehr hoher allgemeiner Intelligenz sind, könnten erneut an sich zweifeln, wenn sie letztlich in verschiedenen Situationen feststellen, dass sie mit tatsächlich Hochbegabten in der kognitiven Leistung nicht mithalten können. Und das könnte wiederum an ihrem Selbstwertgefühl nagen, das sich nach dem Erkennen ihrer Hochsensibilität vielleicht gerade stabilisiert (hat). Für wesentlich zweckmäßiger halte ist es, ihnen die mit der Hochsensibilität einhergehenden Stärken und Befähigungen – auch in der Art zu denken – besser bewusst zu machen. Grund genug, sich selbst wertzuschätzen und etwas aus seinen Stärken zu machen!

Eine hochsensible Frau schrieb in einem Kommentar zu meinem Blog-Artikel zur Unterscheidung von Hochsensibilität und Hochbegabung. Ulla* (53): „Sie haben mir durch den Vergleich ein gutes Stück weitergeholfen. Ich bin hochsensibel, aber nicht hochbegabt. Aus meinen Erfahrungen kann ich nur bestätigen, dass es ein gewisses Maß an Überschneidungen, aber auch wirklich große Unterschiede gibt. Ich habe einen Freund, der höchstbegabt ist (IQ 145). Er denkt viel komplexer als ich und ist mir natürlich haushoch überlegen. Aber er macht auf der anderen Seite immer wieder Erfahrungen, von denen ich vorher schon intuitiv weiß, wie sie ausgehen. Ich bin auch der Meinung, dass es nicht gut ist, Hochbegabung und Hochsensibilität gleichzusetzen. Einem hochsensiblen Menschen kann das schaden, wenn er in dem Glauben lebt, hochbegabt zu sein. Darum habe ich mich testen lassen. Mit einem IQ von 109 lebt es sich auch sehr gut, und ich kann jetzt meine natürliche Begabung nutzen, weil ich den Unterschied kenne und fühle, ohne an meinem Selbstwert zu zweifeln.“ *Name geändert

Schließlich ist mir noch wichtig zu betonen, dass niemand, egal ob hochsensibel oder hochbegabt auf ein Persönlichkeitsmerkmal (und sei es ein derart grundlegendes) reduziert werden sollte – auch nicht von sich selbst. Vielmehr gilt es, die Mannigfaltigkeit der Persönlichkeitsfacetten, die Individualität und die Einzigartigkeit zu sehen und zu würdigen.

Seite 1: Verquickung von Hochbegabung und Hochsensibilität in manchen Büchern
Seite 2: Begriffsklärungen rund um Hochbegabung und Hochsensibilität
Seite 3: Das Konzept der Hochbegabung in Frage gestellt
​Seite 4: Gehen Hochbegabung und Hochsensibilität Hand in Hand?
Seite 5: Trotz Gemeinsamkeiten die Phänomene auseinander halten (Sie befinden sich auf dieser Seite!)

Literatur zum Thema Hochbegabung

(Eine Auswahl)
Brackmann, Andrea
Ganz normal hochbegabt: Leben als hochbegabter Erwachsener, Klett-Cotta, 5. Auf. 2012
Brackmann, Andrea
Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?, Klett-Cotta, 4. Aufl. 2007
Fietze, Katharina
Kluge Mädchen. Frauen entdecken ihre Hochbegabung, Orlanda, 1. erw. Auf. 2013
Scheer, Detlef
25 beliebte Mythen zum Thema Hochbegabung: … und die nackte Wahrheit, Books on Demand 2011
vom Scheidt, Jürgen
Das Drama der Hochbegabten: Zwischen Genie und Leistungsverweigerung, Piper, 4. Aufl. 2005
Stapf, Aiga
Hochbegabte Kinder: Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung, Beck; Auflage: 5. Aufl. 2010
Tanja Gabriele Baudson, Universität Trier, die sich der Hochbegabten-Forschung widmet, hat eine Veröffentlichungsliste zusammengestellt. http://www.uni-trier.de/index.php?id=20275
MIND-Magazin, abrufbar unter www.mensa.de.
Internetplattform für Hochbegabung
www.logios.de
Rost, Detlef H.
Handbuch Intelligenz, Beltz-Verlag

Ulrike Hensel

hat Angewandte Sprachwissenschaft studiert und sich ihr Leben lang für Kommunikation, Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung interessiert. Seit 2010 ist sie als Coach für hochsensible Erwachsene tätig. In ihren Coachings und Gesprächsgruppen unterstützt sie Hochsensible darin, sich in ihrer hochsensiblen Wesensart anzunehmen und ihr privates und berufliches Leben im Einklang damit zu gestalten. Als Autorin möchte sie Erkenntnisse ermöglichen, ermutigen und inspirieren. Sie hat mittlerweile vier Bücher über Hochsensibilität beim Junfermann-Verlag geschrieben. Das Thema Hochsensibilität behandelt sie sachlich und neutral, verknüpft es vor allem mit dem der Kommunikation.

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