Abgrenzung von Hochsensibilität und Hochbegabung – Seite 3

Das Konzept der Hochbegabung in Frage gestellt

Jürgen vom Scheidt bringt es in seinem Buch „Das Drama der Hochbegabten – Zwischen Genie und Leistungsverweigerung“ auf den Punkt: „Wer in einem (entsprechend geeichten und standardisierten) Intelligenztest eine bestimmte Anzahl von Aufgaben in der vorgegebenen Zeit richtig löst und dabei exakt 97,7 Prozent der Bevölkerung übertrifft, also selbst zu den erlesenen 2,3 Prozent gehört, wird als hochbegabt bezeichnet. Mit anderen Worten: Unter 1000 Menschen findet man 23 Hochbegabte, welche 130 und mehr Punkte erreichen. Dies ist eine völlig künstliche und willkürliche Festlegung“, um dann allerdings anzufügen: „…, mit der sich jedoch praktisch ganz gut arbeiten lässt.“ (Ich frage mich an der Stelle: Wie kommt er zu dem Schluss?)

Festzustellen bleibt: Hochbegabung wird rein quantitativ definiert und ist eine statistische Erscheinung, die von der Annahme ausgeht, Intelligenz sei nach der Gauß´schen Glockenkurve (siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Normalverteilung) normalverteilt – eine Annahme, die nicht unbedingt als gesichert gelten. Eine zuverlässige Bestimmung von qualitativen Unterschieden in der kognitiven Leistungsfähigkeit zwischen Hochbegabten und durchschnittlich Begabten gibt es nicht.

Kritik am Konzept der Hochbegabung ist meist verbunden mit Kritik am Intelligenzbegriff. Kritiker weisen darauf hin, dass es sich bei Hochbegabung wie auch bei Intelligenz um ein Konstrukt handelt, das über Messbarmachung erschlossen wird. Vor allem aus Gründen der wissenschaftlichen Handhabbarkeit ist Intelligenz als Fähigkeit zu abstrakt-analytischem Denken festgelegt.
„Ferner wird kritisiert“, heißt es im Wikipedia-Beitrag über Hochbegabung, „dass es willkürlich sei, zu sagen, dass gerade die intelligentesten 2,2 % [genauer: 2,27 %] hochbegabt seien (und nicht etwa die intelligentesten 3, 5 oder 7 %). Wann jemand als hochbegabt zu bezeichnen sei, sei letztlich so schwer festzulegen wie wann jemand als ‚sehr groß‘ oder ‚sehr dick‘ zu bezeichnen sei. Zudem baut der Begriff Hochbegabung auf dem Begriff Begabung auf, der seinerseits umstritten ist.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hochbegabung#Kritik)

Mir ist wichtig, bewusst zu machen, wie unterschiedlich Hochbegabung verstanden werden kann. Ganz leicht kann es passieren, dass mehrere Leute dasselbe Wort benutzen, aber ganz unterschiedliche Dinge meinen. In der Alltagssprache meint „Begabung“ häufig gerade eine jener anlagebedingten Fähigkeiten, die mit dem üblichen IQ-Test nicht erfasst werden – wie etwa die musische, die bildnerisch-darstellende bzw. künstlerische, die soziale, die sportliche oder die handwerklich praktische Begabung. Hier zeigen sich Fähigkeiten in Werken und Taten, nicht im IQ-Testergebnis.

Dass der Terminus „Hochbegabung“ nicht eine beliebige überdurchschnittliche Begabung bezeichnet, sondern sich auf sehr weit überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten beschränkt, die präziser mit „Hochintelligenz“ benannt wären, führt logischerweise zu Verwirrung.

Die Theorie der multiplen Intelligenzen

Sehr spannend finde ich die Theorie der multiplen Intelligenzen, die der Erziehungswissenschaftler Howard E. Gardner (*1943) als alternative Intelligenz-Theorie in den 1980er Jahren entwickelte. Gardner kritisiert die Zuspitzung von Intelligenz auf abstrakt-kognitive Leistungen. Nach seiner Überzeugung reichen die klassischen Intelligenztests nicht aus, um Fähigkeiten zu erkennen und in den Schulen zu fördern, die über den Erfolg im Leben entscheiden. (Eine Buchempfehlung hierzu: „Intelligenzen: Die Vielfalt des menschlichen Geistes“, Howard Gardner, Klett-Cotta)

Für Howard Gardner umfasst Intelligenz eine Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die notwendig sind, Schwierigkeiten zu überwinden und Probleme zu lösen. Dabei ist die Fähigkeit, Probleme zu erkennen, in seinen Augen Voraussetzung für den Erwerb von neuem Wissen. Die verschiedenen Intelligenzen nach Gardner sind die logisch-mathematische Intelligenz, das heißt die Fähigkeit, komplexe Rechenoperationen durchzuführen, Probleme logisch zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen; die bildlich-räumliche Intelligenz, zu der der Orientierungssinn, das räumliche Denken und das Vorstellungsvermögen gehören; die sprachlich-linguistische Intelligenz, die die Leichtigkeit im Umgang mit gesprochener und geschriebener Sprache und die Fähigkeit, Sprache zu verschiedenen Zwecken einzusetzen, meint.

Des Weiteren führt Gardner auf: die körperlich-kinästhetische Intelligenz, deren Kernelemente die ausgezeichnete Beherrschung der Körperbewegungen und die Fähigkeit, geschickt mit Objekten umzugehen und etwas mit den Händen zu gestalten, sind; die musikalisch-rhythmische Intelligenz, das heißt die Begabung zum Singen, Musizieren und Komponieren, der ausgeprägte Sinn also für Melodie, Takt, Rhythmus und Klangharmonie; die interpersonale Intelligenz (auch „soziale Intelligenz“), zu der die Fähigkeit gehört, Stimmungen, Gefühle und Absichten anderer Menschen zu erspüren und nachzuempfinden und umgekehrt auch Einfluss darauf zu nehmen, ebenso die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren und zu interagieren; schließlich noch die intrapersonelle Intelligenz, die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen, die eigenen Gefühle und emotionalen Reaktionen zu verstehen und auch zu beeinflussen, also die Selbsteinschätzung und Selbstregulation.

Gardner erhebt nicht den Anspruch, dass diese Intelligenzen vollständig sind.

Die ersten drei der genannten Intelligenzen zusammen – die logisch-mathematische, die bildlich-räumliche und die sprachlich-linguistische Intelligenz – sind das, worauf übliche Intelligenztests basieren, außerdem noch die Gedächtnisleistung. Die interpersonale und intrapersonale Intelligenz sind die Grundbausteine der Theorie der „Emotionalen Intelligenz“, wie sie später von Daniel Goleman populär gemacht wurde. (Anmerkung: Im Bereich der Emotionalen Intelligenz dürften Hochsensible von ihrer Veranlagung her Stärken bzw. zumindest das Potenzial für Stärken haben.)

Howard Gardners Ideen haben weltweit Diskussionen angeregt. Befürworter stimmen zu, dass die klassische Definition von Intelligenz, die sich nur auf kognitive Fähigkeiten bezieht, zu eng gefasst sei und diese Fähigkeiten überhöhe, und dass die Erweiterung viel besser die verschiedenen Wege, in denen Menschen denken, lernen und geistig aktiv sind, widerspiegelt. Es greife zu kurz, nur diejenigen geistigen Qualitäten der Intelligenz zuzuschreiben, die mit einem standardisierten IQ-Test erfasst werden können. Kritiker argumentieren, dass nach Gardner jede Fähigkeit, jedes Talent, jede Begabung beliebig zur „Intelligenz“ umdefiniert werden könne, was Abgrenzungen unscharf und Forschungen zur Intelligenz schwierig mache, zumal Gardner kein Testverfahren für die multiplen Intelligenzen geliefert hat. Allgemein durchgesetzt hat sich Gardners Modell nicht.

Nach allem, was man weiß, wäre es verkehrt anzunehmen, dass verschiedene Intelligenzen/Fähigkeiten/Begabungen völlig getrennt voneinander existieren. Alles hat mit allem zu tun. Menschen sind mehrdimensional. Die verschiedenen Fähigkeiten stehen in Wechselbeziehung, bedingen und unterstützen einander (zum Beispiel kann Bewegung das Denken fördern), und ergeben insgesamt eine übergreifende Aufgabenlösekompetenz. Erst das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten entscheidet darüber, wie gut jemand mit sich und der Welt klar kommt.
(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Theorie_der_multiplen_Intelligenzen, aufgerufen Mai 2015)

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Seite 5: Trotz Gemeinsamkeiten die Phänomene auseinander halten

Ulrike Hensel

hat Angewandte Sprachwissenschaft studiert und sich ihr Leben lang für Kommunikation, Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung interessiert. Seit 2010 ist sie als Coach für hochsensible Erwachsene tätig. In ihren Coachings und Gesprächsgruppen unterstützt sie Hochsensible darin, sich in ihrer hochsensiblen Wesensart anzunehmen und ihr privates und berufliches Leben im Einklang damit zu gestalten. Als Autorin möchte sie Erkenntnisse ermöglichen, ermutigen und inspirieren. Sie hat mittlerweile vier Bücher über Hochsensibilität beim Junfermann-Verlag geschrieben. Das Thema Hochsensibilität behandelt sie sachlich und neutral, verknüpft es vor allem mit dem der Kommunikation.

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